DER ACHTE TAG

„Das Einzige, was mir
des Findens wert ist,
ist mir das innerste Ich,
jenes Ich, das wir sind
und immer waren,
ohne es gewusst zu haben.“

LESEPROBE

(…) Das steingraue Haus, in dem Jascha zur Welt kam, lag auf einer kleinen Anhöhe fern der Stadt. Und wenn man durch das verwitterte Eisentor eintrat in den Garten, der von der staubigen Strasse aus besehen so winzig anmutete, so war es einem, als versinke man in einem endlosen Meer gelber Blüten, das sich zum Horizont hin immer weiter ausdehnte. Und man verlor jeden Begriff von Zeit.

Da war kein Fassen. Ja, der Garten war so schön, dass man es nicht einen Augenblick lang ertragen konnte, ihn sich recht zu beschauen. Der Blick wollte keinen Halt finden. Es war, als verblasse die Landschaft unter den Augen ihres Betrachters. Und die Erde wich unter den Füssen ihrer Besucher zurück wie ein verlorener Gedanke. Ein Glück nur, dass selten einer kam.

In der Stadt kannten die meisten das unscheinbare Haus mit seinem verwunschenen Garten nur aus den geheimnisumwitterten Erzählungen der Grosseltern. Es muss lange her gewesen sein, dass einer den Mut gefasst hatte, heimlich durch das verrostete Türchen hindurchzuschlüpfen. Seinen Namen erinnerte man nicht mehr. Und ob er jemals wiedergekommen war, vermochte niemand mit Bestimmtheit zu sagen.

Ganz anders jedenfalls, als der alte Jerzik. Von ihm wusste man nur zu berichten, dass er in jenem Haus wohnte. Dass man sich besser von ihm fernhalten sollte, erzählten schon die Kleinen, und dass sein Alter mittlerweile ans Gotteslästerliche heranreichte. Zu Gesicht bekommen hatte ihn keiner derer, die noch lebten, aber dass es bei den Geschäften, die er in seinem Haus betrieb, nicht mit rechten Dingen zuging, war allgemein bekannt.

Der Teufel sei Zeuge seiner Taten, sagten die Leute. Und wenn an manchen Tagen wieder einmal alles schief ging, dann hieß es, dem Jerzik sei wohl das Süppchen auf dem Herd übergegangen. Dass sie mit ihren unbedarften Erzählungen der Wahrheit näher waren, als sie jemals zu fürchten gewagt hatten, sollten die rechtschaffenen Bürger der kleinen Stadt bald erfahren.


Doch zurück zu Jascha, der von all dem nicht den Schimmer einer Ahnung hatte. Nicht von Jerzik. Nicht von dem steingrauen Haus mit dem verwunschenen Garten. Nicht von dem kleinen Städtchen und seinen rechtschaffenen Bürgern. Und auch nicht von dem großen Geheimnis, dem er, ohne es zu wissen, bei der Suche nach der verlorenen Vergangenheit auf der Spur war.

Weil man ihn fort gegeben hatte, kaum dass er den ersten Atemzug getan, trug er die Erinnerung an seine Herkunft über die Jahre nur als verschüttetes Bild in seinem Herzen. Und wie er, der Findling, sich heute, an jenem sonnigen Sonntagmorgen nach Ostern, voller Tatendrang von Schwester Bernadette verabschiedete und dem Kloster den Rücken kehrte, um sich auf die Reise seines Lebens zu begeben, da ahnte er noch nicht, dass ihn mit jenem Jerzik im fernen Städtchen mehr verband, als unsere Schulweisheit sich träumen ließ. Ja, dass dort über nicht mehr und nicht weniger als die Dinge zwischen Himmel und Erde entschieden wurde. Und dass ausgerechnet Jascha dabei eine tragende Rolle spielen sollte, schien ihm selbst, vom Ende her besehen, ganz und gar unvorstellbar. Aber vielleicht war gerade das das Geheimnis seiner arglosen Mission: Dass er nicht wusste, was er tat.

So marschierte also Jascha an jenem sonnigen Sonntagmorgen nach Ostern über die staubige Straße hinaus ins Ungewisse. Und er sah nicht, wie sich unbemerkt ins Auge der Schwester Bernadette eine Träne geschlichen hatte. Denn dazu war er schon viel zu weit von ihr entfernt. Und zu rechnen war damit schon gar nicht gewesen, denn Schwester Bernadette war eine starke Frau, und sie hatte Jascha großgezogen mit eiserner Hand. Und das war gut so.

Es wäre verwunderlich gewesen, hätte nicht andernorts die Geschichte längst den Boden bereitet für Jaschas Ankunft. Denn, wer ins Blaue hinein sich aufmacht und die Nase in den Wind hält, der ist zu allen Zeiten beschützt, wenn er nur seinem Herzen folgt. Denn am wirklichsten sind wir, wenn wir lieben.

Wir wollen nicht verschweigen, dass es Wiltrud war, die Tochter eines fahrenden Marionettenspielers, ohne die unsere Geschichte nicht den vorgezeichneten Verlauf nehmen würde und dass es mit der Schicksalhaftigkeit und der Bestimmung unseres Helden nicht weit her wäre, hätte Wiltrud nicht einen seltsamen Traum gehabt, der sich schon bald als visionär herausstellen sollte...

In großen Schritten erzählt der Film nun das Suchen und Sein von Jascha und den Menschen, die ihn liebten und kannten. Und selbstverständlich wollen wir auch nicht jene verschweigen, die ihm zum Verhängnis wurden. Denn diese waren es ja im eigentlichen Sinne, die ihn erst zu dem machten, der er war. Allen voran sein Schöpfer Jerzik, der ihn in seinem Kellerlaboratorium gezeugt hatte. (…)